Soziale Pluralität

Das Forschungsfeld Soziale Pluralität beleuchtet die Dynamiken von Pluralisierung und Exklusion und analysiert die Herausforderungen, die unterschiedliche Formen sozialer Pluralität, etwa mit Bezug zu Gender, Religion, Herkunft oder Kultur für den Zusammenhalt stellen können.

Pluralität und Diversität sind zentrale Merkmale der demografischen Struktur und kulturellen Identität moderner Gesellschaften. Dennoch – oder gerade deswegen – sind Fragen der ethnischen, religiösen oder sexuellen Heterogenität immer wieder Gegenstand gesellschaftlicher Selbstbetrachtungen, die in Auseinandersetzungen um Ressourcen, Partizipation, Anerkennung und Deutungsmacht politisch relevant werden. Im öffentlichen Diskurs der letzten Jahre sind diese Verhandlungen von gesellschaftlicher Pluralität häufig auf das Migrationsgeschehen enggeführt worden. Das FGZ verfolgt einen umgekehrten Ansatz, indem der gesellschaftliche Zusammenhalt bewusst nicht auf das Migrationsthema reduziert wird. So überschneidet sich die migrationsbedingte Vielfaltssteigerung mit gesellschaftlichen Prozessen der Individualisierung und Pluralisierung, die unabhängig von Migration stattfinden.

Aus diesem Grund thematisiert das FGZ die Themenfelder Migration und Integration im Rahmen übergreifender Fragestellungen des gesellschaftlichen Wandels. Ganz unabhängig von Migration verstärken Prozesse der ökonomischen Globalisierung die Bildung neuer Konfliktlinien innerhalb der Gesellschaft zwischen Bevölkerungsteilen, die die kulturelle und wirtschaftliche Öffnung befürworten und den sogenannten „Globalisierungsverlierer*innen“ beziehungsweise potentiellen Verlierer*innen, die sie ablehnen. Im Zusammenspiel mit der sinkenden Wirksamkeit nationaler Institutionen zeichnet sich in der Gruppe der „Verlierer*innen“ eine zunehmende Skepsis gegenüber der demokratischen Konfliktkultur ab, verbunden mit dem Ruf nach mehr Autorität. Zusammen mit der Digitalisierung öffentlicher Kommunikation, die es erlaubt, sich in kleine Gemeinschaften Gleichgesinnter zurückzuziehen, verblasst aus Sicht Einzelner die Notwendigkeit der gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung, und die Kommunikation unterschiedlicher Positionen zwischen Gruppen wird gleichsam hohl.

Politische Thematisierung und Instrumentalisierung

Im Forschungsfeld Soziale Pluralität sind zunächst Projekte versammelt, die sich mit verschiedenen Achsen gesellschaftlicher Pluralität und ihrer politischen Thematisierung und Instrumentalisierung beschäftigen. Drei Projekte des Berliner Teilinstituts fokussieren auf die Rolle von Religion, Antisemitismus und Rassismus für die Aushandlung und politische Aktivierung gesellschaftlicher Pluralität. So untersucht das Projekt BER_F_02 die religiöse Dimension von Konflikten um gesellschaftlichen Zusammenhalt und explizit auch die Instrumentalisierung religiöser Praktiken und Tradition zum Zweck der Exklusion. BER_F_03 untersucht die Einstellungen von „neuen“ (Geflüchteten) und „alten“ Einwanderer*innen zum Themenkomplex Juden/ Judentum, Holocaust, Nahostkonflikt und Antisemitismus vor dem Hintergrund der Kontinuität antisemitischer Einstellungen in der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Dabei möchte es Aushandlungs- und Lernprozesse sichtbar machen, die die Gemeinsamkeit von Erfahrungen – beispielsweise von Flucht, Vertreibung oder Rassismus – betonen. BER_F_04 untersucht vergleichend die Kontinuität von rassistischen Einstellungen in der BRD und der DDR nach 1945 und bringt die Perspektive der Critical Race Theory, die Rassismus als gesamtgesellschaftliches Phänomen fasst, in die Arbeit des Instituts ein. Eine wichtige Hintergrundbedingung nicht nur für die Berliner Projekte ist die andauernde Entwicklung Deutschlands zur Migrationsgesellschaft.

Die Projekte KON_F_01, KON_F_04 und KON_F_05 widmen sich dem Zusammenhang von Migration und sozialem Zusammenhalt explizit. KON_F_01 untersucht die gewandelte Zielsetzung bei der rechtlichen Regulierung von Migration und Integration in der Geschichte der Bundesrepublik und verbindet diese mit der Debatte um gesellschaftlichen Zusammenhalt. KON_F_04 und KON_F_05 untersuchen jeweils anhand des Beispiels von Zugewanderten den Wandel im Arbeitssektor. KON_F_04 analysiert aus wirtschaftshistorischer und europäisch-vergleichender Perspektive, wie sich Arbeitsmigration im öffentlichen Niedriglohnsektor – etwa im Care-Bereich – auf den Strukturwandel der öffentlichen Daseinsvorsorge auswirkte und welche Folgen dies für gesellschaftlichen Zusammenhalt hat. KON_F_05 untersucht mit ethnografischen Methoden den oftmals beschworenen Zusammenhang von Arbeit und Integration von Migrant*innen und Geflüchteten am Beispiel zweier mittelständischer Unternehmen in Baden-Württemberg. Das Projekt legt dabei ein besonderes Augenmerk auf die Bedeutung des Erlernens konkreter kooperativer Praktiken, die häufig hochgradig moralisch aufgeladen sind und als allgemeine Indizes für die Integrationsfähigkeit und Integrationswilligkeit von Personen interpretiert werden. Flankiert werden die Konstanzer Forschungsprojekte zu Migration und Zusammenhalt durch zwei Transfervorhaben. KON_T_02 entwickelt ein kulturwissenschaftliches Fortbildungsprogramm für kommunale Integrationsbeauftragte, das einerseits Erzählkompetenzen und andererseits historisches, soziokulturelles und politisches Wissen über Migration vermitteln soll. KON_T_03 bedient sich ebenfalls narrativer Methoden und sammelt im Stil der oral history Erfahrungsberichte zur Bewältigung der sogenannten „Flüchtlingskrise“ auf kommunaler Ebene. Das Projekt will es Menschen über verschiedene Milieus, Ethnien und Altersgruppen hinweg ermöglichen, eigene Erfahrungen in einer übergreifenden Gemeinschaftserzählung mit zu artikulieren und öffentlich zu dokumentieren.

JEN_F_03 richtet den Blick schließlich auf Wahrnehmungen gesellschaftlichen Zusammenhalts durch marginalisierte Gruppen. Anhand von Fokusgruppen-Interviews und qualitativen Befragungen untersucht es, wie sich Exklusionserfahrungen auf das Zugehörigkeitsgefühl dieser Gruppen und ihr gesellschaftliches Engagement auswirken.

Forschungsprojekte

BER_F_02
Zur Rolle von Religion in historischen und aktuellen Analysen von gesellschaftlichem Zusammenhalt
» Projektbeschreibung
BER_F_03
Zwischen Antisemitismus, Rassismus und Flucht – Multiperspektivische Zugänge zu Juden / Judentum, Nahostkonflikt und Holocaust in der post-migrantischen Gesellschaft
» Projektbeschreibung
BER_F_04
Rassismus seit 1945 und die Transformation Deutschlands zur Einwanderungsgesellschaft: BRD, DDR und die Bundesrepublik Deutschland (1945–1999)
» Projektbeschreibung
KON_F_01
Mitgliedschaft, Migration, Verfassung
» Projektbeschreibung
KON_F_04
Im Dienste des Staates
» Projektbeschreibung
KON_F_05
Praktische Integration durch Arbeit? Eine ethnographische Studie zur Arbeitssozialisation von Migranten und Flüchtenden in Deutschland
» Projektbeschreibung