Individuell und strukturell: Forschende diskutieren über Rassismus in Institutionen

Ist Rassismus in Institutionen strukturell bedingt, hat er spezifische Gründe in den Institutionen oder hängt er primär von individuellen Einstellungen ab – mit dieser Leitfrage befassten sich am 9. Mai 2022 Expert:innen aus Praxis und Wissenschaft in Leipzig im Rahmen der Auftaktveranstaltung eines jüngst gestarteten Verbundprojektes. Die Studie „Rassismus als Gefährdung des Gesellschaftlichen Zusammenhalts im Kontext ausgewählter gesellschaftlich-institutioneller Bereiche“ (kurz: InRa-Studie „Institutionen & Rassismus“) wird nach Beschluss des Bundestages vom Bundesministerium des Inneren und für Heimat finanziert.

Das hochkarätig aus der Rassismusforschung besetzte Podium war sich weitestgehend einig darin, dass es nicht an der alten Dichotomie zwischen Strukturen und Akteuren festzuhalten gilt, wenn Erkenntnisse über die Verankerung und Verbreitung von Rassismus in deutschen Institutionen gewonnen werden sollen. Prof. Dr. Juliane Karakayali (Evangelischen Hochschule Berlin) machte deutlich, dass sich individuelle Einstellungen nicht ohne die Betrachtung gesellschaftlicher Verhältnisse erklären lassen – „Auch individuelle Formen von Rassismus sind nichts, das getrennt vom gesellschaftlichen, machtvollen Verhältnis von Rassismus besteht.“ Sotiria Midelia (Geschäftsführerin des Antidiskriminierungsbüros Sachsen e. V.) bekräftigte dies: Individuelles Handeln von Behörden-Vetreter:innen ist per Definitionem (und dem Verständnis von Personalführung im öffentlichen Dienst entsprechend) immer auch institutionelles Handeln – also Handeln im Auftrag einer Institution.

Der Leiter der Verbundprojekts, Prof. Dr. Gert Pickel (Universität Leipzig) erklärte, dass aus diesen sozialwissenschaftlichen Gewissheiten heraus ein Schwerpunkt in der Ausrichtung der InRa-Studie auf den institutionellen Kulturen liege, die rassistische Diskriminierung hervorbringen bzw. stabilisieren können und denen deshalb auch eine Schlüsselrolle für jede Möglichkeit der Veränderung zukommt, die es in der Forschung genau zu fassen gilt. Gerade dafür sei es allerdings zugleich unumgänglich, die Perspektiven und das individuelle Begreifen der Mitarbeiter:innen wie auch von Betroffenen zu erfassen – nur so lassen sich Erkenntnisse als Grundlage für Handlungsempfehlungen gewinnen, die zu neuen Praktiken führen könnten.

Joshua Kwesi Aikins (Universität Kassel und Vertreter von „Citizens for Europe“ in der Forscher:innengruppe des Afrozensus) betonte, dass es dabei insbesondere um die Untersuchung von individuellen und strukturellen Abwehrmechanismen institutionellen Wandels gehen müsse. Hier zeige sich bislang noch eine deutliche Forschungslücke in Deutschland: Wie funktioniert institutionelle Stabilität angesichts eines deutlich gewachsenen Problembewusstseins, wie lässt sie sich erklären und praktisch ändern? Prof. Dr. Vassilis S. Tsianos (Fachhochschule Kiel) wies in diesem Zusammenhang auf den langsamen Ausbau eines rechtlichen Diskriminierungsschutzes und geeigneter Institutionen zu deren Durchsetzung gegenüber staatlichen Instanzen hin. Vor dem Hintergrund der lange kaum hinterfragten historischen Kontinuitäten rassistischer Strukturen in Deutschland unterstrich er mit Blick auf die InRa-Studie sowie den wahrzunehmenden Ausbau von Rassismusforschung in Deutschland: „Das ist ein guter Anfang für einen Weg, der sehr schwierig sein wird.“

Die konzeptionelle, methodische und empirische Vielfalt der 23 Teilprojekte der InRa-Studie eröffnet die Möglichkeit für kontroverse Positionen und Blickwinkel. Zugleich wurde offensichtlich, dass sich die Unterschiede im analytischen Zusammenhang des Gesamtprojekts – und auch darüber hinaus, im Gespräch mit der sich dynamisch entwickelnden deutschen Rassismusforschung – gerade als Stärke erweisen könnten. Gemeinsam ist den vertretenen Perspektiven und Konzeptionen von Rassismus die Frage nach der (sich immer wieder wandelnden) Unterscheidung zwischen einem „Wir“ und dem „Anderen“ bzw. „Nicht-Wir“, verbunden mit einer Abwertung und Hierarchisierung dadurch abgegrenzter „Gruppen“. Diese Konstellationen zu erforschen ist ein großer Schritt für die deutsche Rassismusforschung, gerade vor dem Hintergrund, dass in der Bundesrepublik die Disqualifizierung von Rassismusvorwürfen als „ideologische Keule“ nach wie vor gängige Praxis – in jüngerer Zeit immer häufiger ergänzt durch eine Umdeutung und Abwertung von geäußerten Rassismuserfahrungen als Machtinstrument und Ausdruck von „Identitätspolitik“ – ist. International zeigt sich schon seit Langem, dass der systematische Ausbau von Rassismusforschung und -berichtswesen und die damit verbundene „Normalisierung“ des Sprechens über Rassismus als zentrales – aber eben verdecktes und verdrängtes – Merkmal moderner Gesellschaften, wichtiger Baustein für Antidiskriminierung und Antirassismus sind. So ist es die gemeinsame Aufgabe der Projekte in der InRa-Studie, hierzu durch die Erhebung vielfältigen empirischen Materials zu Einstellungen und Kulturen im institutionellen Kontext und einer multiperspektivischen Analyse und Diskussion dieses Materials einen Beitrag zu leisten.

Hier können Sie die Veranstaltung nachschauen: https://youtu.be/Nvtn-Y8Wgwc

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