Forschungsprogramm „Gesellschaftlicher Zusammenhalt“

Forschungsprogramm

Gesellschaftlicher Zusammenhalt – ein umstrittener Begriff mit zahlreichen Verwendungsweisen

„Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ ist ein analytisch wie normativ umstrittener Begriff. Diese Eigenschaft teilt er mit vielen neuzeitlichen Leitkonzepten sozialer Ordnung. Er ist deshalb nicht umstandslos als wissenschaftliche Kategorie zu verwenden, sondern muss auf seine Verwendungsweisen hin analysiert werden: Was verstehen Menschen in unterschiedlichen sozialen Gruppen, Milieus, Räumen, Institutionen, Ländern und Epochen unter gesellschaftlichem Zusammenhalt? Wie „leben“ sie ihn in ihren Praktiken? Finden wir eine übergreifende Gemeinsamkeit oder Ähnlichkeit in den Vorstellungen, Praktiken und sozialräumlichen Modellen gesellschaftlichen Zusammenhalts – oder variieren diese nach bestimmten räumlichen und Gruppenzugehörigkeiten, bis hin zu miteinander unvereinbaren Werteordnungen? In welchem Zusammenhang steht dies mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Traditionen? Wie kann in der Zusammenführung solcher Perspektiven gesellschaftlicher Zusammenhalt theoretisch – sowohl normativ als auch analytisch – gehaltvoll bestimmt und gegebenenfalls auch empirisch operationalisiert, beschrieben und gemessen werden?

Begriff des gesellschaftlichen Zusammenhalts und Forschungsheuristik

Gesellschaftlicher Zusammenhalt bezieht sich seinen Verwendungsweisen folgend auf Gemeinwesen, deren Mitglieder über positive Einstellungen zueinander und zu ihrem Gesamtkontext verfügen, in dem sie als Handelnde in Praktiken und Beziehungen involviert sind, die einen Gemeinschaftsbezug haben und sich in komplexe institutionelle Prozesse der Kooperation und Integration einfügen, die von den Gesellschaftsmitgliedern thematisiert und evaluiert werden. Zusammenhalt existiert dort, wo diese Ebenen eine bestimmte Qualität aufweisen und hinreichend (was ebenfalls näher zu bestimmen ist) übereinstimmen – in den Einstellungen, Handlungen, Beziehungen, Institutionen und Diskursen innerhalb einer Gesellschaft.

Diese Arbeitsdefinition dient dazu, die Aspekte und Konstitutionsbedingungen von Zusammenhalt (als Zustand oder Prozess) zu differenzieren und in einem Zusammenspiel unterschiedlicher wissenschaftlicher Methoden untersuchen zu können. Sie ist normativ neutral gehalten, da sie weder festlegt, welcher Art die geforderten Einstellungen sind und welche Quellen diese haben, noch vorbestimmt, wie stark und explizit der Gemeinschaftsbezug der relevanten Praktiken ist und welche Form sozialer Kooperation und Integration hinreicht, um von Zusammenhalt zu sprechen. Dies heißt jedoch nicht, dass nicht unterschiedliche normative Vorstellungen von Zusammenhalt, die in der Gesellschaft anzutreffen sind und einander gegebenenfalls widerstreiten, Gegenstand der Untersuchungen sind; und es heißt auch nicht, dass – auch hinsichtlich des Transfers in die Praxis – die Forscher:innen des FGZ sich keine normativen Positionen zum Zusammenhalt in einer modernen Demokratie zutrauen. Sie sind sich aber dessen bewusst, dass dies ein eigens auszuweisender, methodisch zu reflektierender Schritt ist.

Leitfragen und Forschungsschwerpunkte des FGZ

Aus den gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Debatten zum Komplex sozialer Zusammenhalt ergeben drei unterscheidbare Problemperspektiven, die sich in den Leitfragen und Forschungsschwerpunkten des FGZ wiederfinden: Was ist gesellschaftlicher Zusammenhalt? Was erzeugt und was gefährdet gesellschaftlichen Zusammenhalt? Wie wirkt gesellschaftlicher Zusammenhalt? Wie variieren gesellschaftlicher Zusammenhalt und seine diskursive Produktion historisch und regional? Das FGZ setzt seinen ersten Schwerpunkt auf begriffliche und theoretische Fragen vor dem Hintergrund der sozialen und institutionellen Rahmenbedingungen liberaler Demokratien. Zweitens untersucht es die Entstehungsbedingungen und Gefährdungen gesellschaftlichen Zusammenhalts sowie seine Auswirkungen auf politische, sozioökonomische und kulturelle Strukturen und Prozesse. Im dritten Forschungsschwerpunkt werden schließlich die Lösungsversuche liberal-demokratischer Gegenwartsgesellschaften für das Problem gesellschaftlichen Zusammenhalts mit historischen Vorläufersituationen verglichen. Hier wird nach den globalen Kontexten und Verflechtungen dieser Zusammenhaltsvorstellungen gefragt.

 

Forschungsstruktur

Unter dem Dach des FGZ sind 109 Forschungs- und Transferprojekte versammelt, die sich mit unterschiedlichen Aspekten gesellschaftlichen Zusammenhalts beschäftigen.

Dabei gehen sie den Leitfragen des Instituts nach Begriff, Entstehungsbedingungen, Gefährdungen und Wirkungen gesellschaftlichen Zusammenhalts aus einer Vielzahl disziplinärer und methodischer Perspektiven nach. Diese thematische, disziplinäre und methodische Pluralität der Forschungsvorhaben ist eine besondere Stärke des FGZ, die sich aus der Integration von elf Standorten mit unterschiedlichen Schwerpunkten zu einem Institut ergibt. Gleichzeitig stellt sie das FGZ jedoch vor die Herausforderung, seine Forschungsaktivitäten so miteinander zu verkoppeln, dass das besondere Erkenntnispotential interdisziplinärer Forschung für die gemeinsame Arbeit an den Leitfragen des Instituts genutzt werden kann. Im FGZ wird diese Funktion durch drei aufeinander bezogene Forschungscluster sowie eine Sequenz von thematischen Leitfragen für die Jahrestagungen des Instituts gewährleistet.

Die Funktion der Cluster

Die drei Cluster sind interdisziplinär angelegt. Sie arbeiten zwar jeweils zu allen Leitfragen des Instituts, setzen jedoch unterschiedliche Schwerpunkte.

Den drei verschiedenen Clustern kommen in der Struktur des FGZ drei zentrale Funktionen zu: Erstens bieten sie Foren an, die durch regelmäßige Veranstaltungen den systematischen Austausch zwischen den Forschenden an den verschiedenen Standorten ermöglichen. Zweitens dienen sie als Inkubatoren, die die Plattform und organisatorischen Ressourcen für standortübergreifende Publikations- und Transferprojekte bieten. Drittens sind die Cluster Kompressoren, die die Forschungsergebnisse der Einzelprojekte zu den Leitfragen des Instituts bündeln, verdichten und schließlich in die Diskussion des Gesamtinstituts – etwa im Rahmen der Jahrestagungen – einspeisen. Die Cluster werden jeweils von einem der koordinierenden Standorte organisiert und von der zentralen Forschungskoordination unterstützt und begleitet.

Die Funktion der Forschungsfelder

Innerhalb jedes Clusters sind mehrere Forschungsfelder angesiedelt, die Projekte mit ähnlichen thematischen Schwerpunkten versammeln.

Sie sind der Ort, an dem Manuskripte diskutiert und konkrete gemeinsame Projekte entwickelt und vorangetrieben werden. Die Forschungsfelder sind daher als alltägliche Arbeits- und Kommunikationszusammenhänge angelegt, die nicht auf Clustertagungen beschränkt sind. Die Forschungsfelder spiegeln die Forschungsschwerpunkte des Instituts zu einem bestimmten Zeitpunkt wider, können jedoch nach Bedarf verändert, aufgelöst oder neu eingeführt werden. Einzelne Projekte und Projektgruppen können in verschiedenen Forschungsfeldern und Clustern eine – jeweils anders nuancierte – Rolle spielen und tragen damit auch zur Vernetzung der Standorte und Projekte bei.

Forschung und Transfer

Transfervorhaben sind ein integrales Element der Forschungsaktivitäten des FGZ und werden durch den Geschäftsstellenbereich Wissenstransfer unterstützt, gebündelt und vorangetrieben.

Ausgehend vom Anspruch des FGZ, Forschung und Transfer gleichwertig zu betrachten, wird das Forschungsprogramm des Instituts von innovativen Transfervorhaben flankiert, die teils Bestandteil der Forschungsprojekte sind, teils im Rahmen eigenständiger Transferprojekte durchgeführt werden. Diese Transfervorhaben greifen die Fragestellungen und Wissensbestände von Politik und Gesellschaft zu gesellschaftlichem Zusammenhalt auf und übersetzen wissenschaftliche Ergebnisse so, dass sie für spezifische gesellschaftliche Zielgruppen anschlussfähig sind. So gewinnen sie im Dialog mit Praxispartner:innen gemeinsame Erkenntnisse, fördern den systematischen Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis, entwickeln neue Formate zur praktischen Vermittlung und Anwendbarkeit wissenschaftlicher Ergebnisse oder erforschen die Erfolgskriterien und -bedingungen von Transferprozessen.